Foto: Michael Kinnen
Das Kruzifix an der Außenwand der Kirche Sankt Laurentius in Ahrweiler ist zum Gebetsort in der Hochwasserkatastrophe geworden.
Besser vom Neuaufbau sprechen
Von: Brigitte Bettscheider | 10. Juli 2022
„Zusammenhalten“ ist ein Zeitdokument über die Flutnacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 und über das Leben in einer anderen Welt seither. Und es ist ein sehr persönliches Buch von Pastor Jörg Meyrer – über das Annehmen und Loslassen und über die Zukunft des Ahrtals und der Kirche.
Dieses Buch erspart dem Leser nichts. Nicht die unglaublich schrecklichen und dramatischen Geschichten vom Ertrinken oder von Rettung in letzter Minute. Nicht die Bilder von Schlamm und Müll, von Baggern, wo „früher“ Blumen blühten, von Erdhügeln, wo „früher“ gepflegter Rasen war.
Und nicht die Tränen, die Jörg Meyrer allein weint oder mit Betroffenen („das sind alle hier“) oder Helfern („sie sind das Wunder der Flutkatastrophe“): als er zum ersten Mal den völlig verwüsteten Ahrfriedhof besucht; als er zum ersten Mal über eine Brücke fährt, die wieder gebaut ist; beim Betrachten eines Fotos mit einem Kreuz, das trocken blieb, weil das Wasser genau darunter stoppte; wenn Ruhe einkehrt nach einem weiteren Tag des „einfach Daseins“ für die Menschen in der zerstörten Stadt; und bei all den anderen Situationen, die das Herz treffen. Ohne allerdings rührselig zu sein.
Helfer aus Münsterland sind ins Ahrtal gezogen
Geschenke sind auch die Geschichten von den Helfern (100 000 sollten es insgesamt werden), die ab der ersten Stunde da sind. „Es ist so unendlich gut, dass das niemand allein tun muss, dieses schreckliche Werk des Ausräumens“, schreibt Meyrer über die ersten Tage. Und erzählt von Tamara und Reinhard, die mit ihrem zur Kaffeebude umfunktionierten Wohnmobil aus dem Münsterland nach Ahrweiler kamen, um zu helfen und Mut zu machen, und inzwischen ganz in das „solidAHRischste Tal der Welt“ umgezogen sind.
Das Buch lehrt den Leser viel. Dass die Ahr genau so verletzt ist, wie sie verletzt hat. Dass „Ahr-Weh“ eine Wunde ist, die alle tragen. Dass es besser ist, nach dem Wozu statt nach dem Warum zu fragen und vom Neuaufbau statt vom Wiederaufbau zu sprechen. Dass es auch einem Priester beim Beten die Sprache verschlagen darf. Und dass es erste Bilder, Ziele und Ideen gibt, wohin es mit dem Ahrtal und mit der Kirche – nicht nur im Ahrtal – gehen kann.
örg Meyrer, Zusammenhalten. Als Seelsorger im Ahrtal, 256 Seiten, ISBN 978-3-89710-934-6, Verlag Bonifatius, Paderborn 2022, Preis: 20 Euro.
Das Buch verlangt etwas vom Leser. Und zwar ganz konkret im letzten
der drei Briefe, mit denen Meyrer das Buch schließt. „Vergiss uns nicht
in unserem Tal!“, bittet er. „Verändere dein Leben, und wenn es nur ein
ganz klein wenig ist“, appelliert er. „Denn so weitermachen wie bisher,
das wird zu weiteren Katastrophen wie bei uns führen“, warnt er. „Wäre
es eine Idee, wenn du jede Woche eine halbe Stunde verschenkst, um die
Welt besser zu machen? Um Menschen, denen es nicht gut geht,
beizustehen?“, fragt er.
Das Buch mag Zeitgeschichte, Lehrbuch, Trauerbuch, Trostbuch, Hoffnungsbuch, Tagebuch sein: Es ist absolut lesenswert.
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