Wurzeln und Flügel
Ein Beispiel: Frau Brand (Name geändert), die Mutter von Robin (zwölf Jahre), erzählt in der Beratungsstunde froh: „Ich arbeite jetzt in der Schulküche, so kriege ich mehr mit und kann meinem Sohn besser helfen.“ Die Familie kommt zur Erziehungsberatung, weil der Junge wegen Mobbing die Schule gewechselt hat. Nach dem ersten Halbjahr an der neuen Schule tauchen genau die gleichen Probleme wieder auf. Robin ist übergewichtig und hat Schwierigkeiten mit altersangemessenem Sozialverhalten, dem Einhalten von Regeln und dem Umgang mit Kritik. Es kommt häufig zu heftigen Wutausbrüchen sowohl gegenüber anderen Kindern als auch gegenüber Lehrpersonen.
Freie Zeit bleibt dem Jungen kaum. Seine Woche ist durchgetaktet mit Therapien, Schwimmen, Gitarrenunterricht, aber: Nichts macht ihm Spaß. Die Mutter sucht häufig den Kontakt zu den Lehrern, versucht, sie in den Pausen und nach Schulschluss abzupassen. Ihren Sohn nimmt sie grundsätzlich in Schutz, denn: „schuld sind immer die anderen“. Der Sohn wird mit einer so genannten „tracking app“ (damit kann man mit dem eigenen Mobiltelefon das des Kindes orten) überwacht. Eltern und Kind haben einen großen Leidensdruck, aber fühlen sich vereint gegenüber der „bösen Welt“.
Wir erleben häufig überforderte, hilflose Mütter und Väter. In ihrem verzweifelten Bemühen, ihren Kindern zu helfen, erreichen sie oft das Gegenteil und verstärken das Problem. Sie wollen ihre Kinder bestmöglich schützen, fördern, vor Misserfolgen und Enttäuschungen bewahren.
Lehrer beklagen sich, sie hätten Angst vor dem Elternabend, weil Eltern mehr Mitspracherechte verlangen und ihnen erklären wollen, wie sie mit ihrem Kind umgehen sollen und auch schon mal mit einer Beschwerde beim Ministerium oder dem Anwalt drohen. Die Eltern trauen weder ihren Kindern noch den Lehrern zu, sich im Schulalltag angemessen und kompetent verhalten zu können. Dies stellt nicht nur ein Problem für die Lehrkräfte dar, sondern hat auch Auswirkungen auf die Befindlichkeit ihrer Kinder. Sie spüren die Ängste der Eltern. Wer ständig kontrolliert, zeigt damit die eigene Verunsicherung und signalisiert seinem Kind: „Ich glaube nicht, dass Du das alleine schaffst!“ Damit wird das Kind vielleicht geschützt, es wird aber auch nicht lernen, sich etwas zu trauen.
Eltern haben oft das Gefühl verloren, dass es das Leben grundsätzlich gut mit ihnen meint und das geben sie auch an ihre Kinder weiter. Folge ist, den Kindern fehlt es an der Überzeugung, dass die Welt verstehbar und gestaltbar ist. Sie haben kaum Gelegenheiten, Resilienz (psychische Widerstandskraft, die notwendig ist, um Krisen zu bewältigen) zu entwickeln. Den Kindern fehlen die Begegnungen mit den „Schattenseiten“ des Lebens. Unangenehmes wird ferngehalten.
Den Kindern wird oft sogar der Anblick eigener Trauer erspart, etwa beim Tod der Großeltern. Sie haben ihre Eltern noch nie weinen sehen und wissen nicht, was es heißt, traurig oder frustriert zu sein oder wie man mit diesen Emotionen gut umgehen kann. Das scheinbar schützende Verhalten der Eltern führt daher zu keinem stabileren Selbstbewusstsein oder Selbstwertgefühl, sondern zu einer seelischen Verunsicherung und sozialen Schwächung des Kindes.
Es fehlt an Modellen zur Bewältigung von Verlusten und Misserfolgen. Gerade diese sind aber wichtig für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung. Kinder sollten Fehler machen und daraus lernen dürfen.
In unserer Beratungsarbeit geht es daher häufig darum, „erbauliche Worte“ zu finden, die Eltern zu ermutigen, mehr ihrer „Bauchstimme“/Intuition zu vertrauen als den zehnten Erziehungsratgeber zu lesen. Ferner geht es darum, ihnen klar zu machen, dass sie ihren Kindern weitaus mehr helfen, wenn sie in Bezug auf das schulische Leben des Kindes weniger tun und insgesamt etwas unaufgeregter auf Schilderungen von vermeintlichen Ungerechtigkeiten reagieren.
Unsere Aufgabe ist es dann, den Eltern zu helfen, die eigenen Wurzeln nochmal zu spüren, sich selbst gut ankern zu können, um dies auch ihren Kindern vermitteln zu können und ihnen aus dieser Haltung und Sicherheit heraus auch Freiraum und Zutrauen zu gewähren, also Flügel zu geben.