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Weltkrieg:Warum schwieg Papst Pius XII.?

Wie ist das Handeln von Papst Pius XII. während des Zweiten Weltkriegs zu bewerten? Der US-amerikanische Wissenschaftler David Kertzer hat bislang unbekanntes Material im Vatikanischen Archiv ausgewertet.
Papst Pius XII. wollte die kirchlichen Einrichtungen um jeden Preis vor den Nazis schützen.
Datum:
2. Apr. 2023
Von:
Christiane Laudage
Warum schwieg Papst Pius XII. zu den nationalsozialistischen Gräueltaten im Zweiten Weltkrieg und vor allem zur Ermordung der Juden in Europa? Der US-amerikanische Wissenschaftler David Kertzer will auf diese Frage eine Antwort geben und ging dafür im Vatikanischen Apostolischen Archiv auf Spurensuche. Sein Buch über Pius XII. während des Zweiten Weltkriegs ist jetzt auf Deutsch erschienen.
Für das Schweigen des Papstes, das Pius XII. selbst als sehr schmerzhaft empfand, sieht Kertzer verschiedene Gründe. Bis ungefähr Ende 1942 ging Pius XII. „von einer Zukunft aus, in der Deutschland den europäischen Kontinent beherrschen würde“, so Kertzer. Daher habe der Papst in diesen Jahren alles getan, um sich sowohl mit den italienischen Faschisten unter Benito Mussolini wie mit dem NS-Regime gut zu halten. Denn ihm sei es zuerst darum gegangen, „die Institution Kirche zu beschützen“.
 
Die Besetzung Roms durch deutsche Truppen im September 1943 stellte den Papst nach Ansicht des US-amerikanischen Wissenschaftlers vor eine weitere Herausforderung. „Weil er die Vatikanstadt und die vielen anderen kirchlichen Einrichtungen in der Welthauptstadt des Katholizismus um jeden Preis schützen wollte, war Pius XII. fest entschlossen, freundliche Beziehungen zur Besatzungsmacht zu pflegen.“ Kertzer interpretiert die Entscheidung des Papstes, nicht gegen den Abtransport der römischen Juden im Oktober 1943 zu protestieren, vor diesem Hintergrund. Als dann ab 1943 deutlich wurde, dass Deutschland und Italien als Achsenmächte den Krieg verlieren würden, wuchs bei Pius XII. die Angst vor den Folgen, die ein sowjetischer Sieg für das Schicksal der Kirche haben könnte.
 

Pius kannte die führenden politischen Akteure

Bevor Eugenio Pacelli Papst wurde, war er lange Jahre Nuntius in Deutschland (1917–1929) und nachfolgend als Kardinalstaatssekretär der Chefdiplomat des Heiligen Stuhls – hatte also sehr genaue Kenntnisse von den führenden politischen Akteuren in Deutschland wie auch in Italien. Er machte sich keinerlei Illusionen, weder über Hitler noch über Mussolini – er fürchtete sie sogar. Kertzer stellt fest, dass, soweit sich aus den vatikanischen Archiven ersehen lasse, Pius XII. niemals ernsthaft in Erwägung gezogen habe, Hitler oder Mussolini, die beide wenigstens der Taufe nach katholisch waren, zu exkommunizieren. Allerdings hätte die NS-Führungsriege davor Angst gehabt. Denn Millionen Katholiken waren gleichzeitig auch glühende Anhänger Hitlers, so Kertzer. „Hitler und die Nazis anzugreifen, während deutsche Truppen auf dem Vormarsch durch Europa waren und allerorten die jüdische Bevölkerung zur Vernichtung zusammentrieben, hätte bedeutet, die Treue jener Millionen zur katholischen Kirche aufs Spiel zu setzen.“
 
Kertzer ist in seinem Urteil über das Handeln des Papstes im Zweiten Weltkrieg zwiegespalten. Einerseits: „Misst man Pius XII. allein an seinem Einsatz für den Schutz der institutionellen Interessen der römisch-katholischen Kirche zu Kriegszeiten, so lässt sich sein Pontifikat mit einiger Berechtigung als Erfolg verbuchen.“ Aber: „Nimmt man den Papst jedoch als moralische Führungsinstanz in den Blick, so hat Pius XII. versagt.“ Trotz großer Unsicherheit habe Pius XII. nichts getan, was einen der beiden Diktatoren gegen ihn aufbringen konnte.
Als im vergangenen Sommer Kertzers Buch über Pius XII. im Zweiten Weltkrieg erst auf Englisch und kurz danach auf Italienisch erschien, war man im Vatikan wenig erfreut. Der Historiker Matteo Luigi Napolitano wies Kertzer in der vatikanischen Tageszeitung „Osservatore Romano“ verschiedene gravierende Fehler nach. Was der Autor auf seiner eigenen Website erwiderte. Kritik kam auch von dem Vatikan-Archivar und flämischen Historiker Johan Ickx. Er verteidigt seit der Öffnung der Archive vor drei Jahren immer wieder das Handeln von Papst Pius XII. Dieser habe nicht zu den Verbrechen geschwiegen, wenn es nicht aufgrund der diplomatischen Bestrebungen nötig gewesen sei. Es gebe viele Ansprachen in der Zeit des Zweiten Weltkrieges, diese müssten richtig gelesen werden.
Von der Öffnung der vatikanischen Archive versprach man sich ein Ende des sogenannten Pius-Krieges. Dieser wird seit Jahren zwischen den Bewunderern und den Kritikern des Papstes ausgetragen über die Haltung des Papstes im Zweiten Weltkrieg. Die Diskussion wird auch nach der Veröffentlichung von Kertzers Buch in Deutschland weitergehen.
 

Hilfegesuche online einsehbar

Die Hilfegesuche von Juden an Papst Pius XII. (1939–1958) aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs sind jetzt vollständig im Netz einsehbar. Laut Vatican News wurde die 2022 begonnene digitale Erschließung der rund 2500 Dokumente unlängst abgeschlossen. Von A wie „Anonym“ bis Z wie „Zylberman“ können die Gesuche nun online eingesehen werden. Oft ging es darin um Hilfen für Ausreisen in Länder außerhalb Europas. Zuständig für die Erschließung und Aufbereitung der in 170 Bänden gesammelten Dokumente ist das vatikanische Staatssekretariat. Über die Rolle von Pius XII. im Zweiten Weltkrieg streiten Historiker seit Jahrzehnten. Die nun veröffentlichten Briefe und Akten liefern für diese Debatte wichtige neue Informationen. Unter anderem geht aus ihnen hervor, dass der Vatikan auf Anweisung des Papstes getauften wie nicht getauften Juden zu helfen versuchte.