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Alternativen zu Psychopharmaka:Verhalten auf den Grund gehen

Fast die Hälfte aller mit Demenz in Pflegeheimen lebenden Menschen bekommen Psychopharmaka. Ein Pflegeexperte hält das für grundfalsch – und nennt Alternativen.
Eine Seniorin schaut in den Garten: Eine Atmosphäre, die ganz bestimmt zu ihrem Wohlbefinden beiträgt.
Datum:
10. Aug. 2024
Von:
Angelika Prauß

Der alte Mensch, der sich morgens partout nicht duschen lassen will und handgreiflich gegen das Pflegepersonal wird. Die bettlägerige Seniorin, die immer wieder lautstark am Gitter ihres Bettes rüttelt. Der Senior, der im Gemeinschaftsraum ständig schreit.  Solch „herausforderndes Verhalten“, wie es oft genannt wird, kommt in Senioreneinrichtungen, aber auch bei der Pflege dementer Menschen zu Hause immer wieder vor. Nicht selten wird laut dem Kölner Pflegeexperten Henry Kieschnick dann zu Psychopharmaka gegriffen.

Diese werden Studien zufolge bei alten Menschen überdurchschnittlich häufig eingesetzt, teilweise sogar mehrere gleichzeitig. Laut AOK-Pflege-Report 2023 bekommen bis zu 30 Prozent aller Pflegebedürftigen in deutschen Pflegeheimen Antipsychotika; bei Menschen mit Demenz sogar bis zu 45 Prozent. Bereits 2017 stellte der AOK-Report fest, dass Psychopharmaka vor allem bei „herausforderndem Verhalten“ verabreicht würden.

Kieschnick, Referent für stationäre Altenhilfe beim Diözesan-Caritasverband im Erzbistum Köln, beobachtet dies mit Sorge. Psychopharmaka dienen der Behandlung psychischer oder psychiatrischer Störungen wie einer akuten Psychose, erklärt er und betont: „Sie helfen in der Regel nicht bei einer Demenzerkrankung.“ Vielmehr schadeten die Mittel den Betroffenen eher: Sie machten müde und sorgten für eine vernebelte Wahrnehmung. Dadurch schränkten sie die Selbstständigkeit und Kommunikationsfähigkeit demenziell Erkrankter weiter ein und erhöhten beispielsweise das Sturzrisiko.

Auffälligkeiten oft Ausdruck unerfüllter Bedürfnisse

Sein Appell an Pflegekräfte und Angehörige: Menschen mit Demenz anders begegnen, sich mehr Mühe geben und „die möglichen Ursachen für dieses besondere Verhalten ergründen“. Verhaltensauffälligkeiten wie Schreien, Tätlichkeiten gegen sich und andere oder innere Unruhe mit Bewegungsdrang sind nach der Erfahrung des Pflegeexperten oft eine Ausdrucksform für unerfüllte Bedürfnisse des alten Menschen. Weil der aufgrund seiner Demenz Wünsche, Gefühle, Anliegen und Probleme nicht mehr angemessen ausdrücken könne, müsse er eine andere Form dafür finden – durch Verhalten, das sich dem Umfeld oft nicht direkt erschließe.

Kieschnick hat 2021 bis 2023 ein Praxisprojekt begleitet, bei dem es um den defensiveren Einsatz von Psychopharmaka in der Altenhilfe ging. Ziel war es, Lösungen für den Pflegealltag zu finden. Ein Ergebnis: Oft gibt es relativ simple und einfach zu lösende Gründe für besonderes Verhalten.

Eine Ursache können demnach körperliche Bedürfnisse sein, die nicht gesehen werden: Hunger oder Durst, Harndrang oder Bewegungsmangel. Und: „Bis zu 80 Prozent des besonderen Verhaltens sind auf Schmerzen zurückzuführen“, weiß Kieschnick aus Studien. Auch Gefühle wie Angst, Trauer, Heimweh, fehlende Kontakte, Mangel an Geborgenheit, Bindung und Wertschätzung könnten mitunter ein Grund sein. Für Unwohlsein sorgten oft zudem umgebungsbezogene Ursachen. Werde dies mit in Erwägung gezogen, könnte dem alten Menschen gezielt geholfen werden.

Deshalb gelte es, „bei jedem Menschen die individuellen Gründe herauszufinden, wie es ihm oder ihr besser gehen kann –  es gibt viel, was ohne Psychopharmaka gelöst werden kann“, sagt der Pflegefachmann. So könnten konstante Bezugspersonen, Berührungen und individuell geeignete Beschäftigungen das Unwohlsein lindern. Über vertraute Alltagsbewegungen wie Kartoffelschälen oder das Ausräumen der Spülmaschine könne beispielsweise der Bewegungsdrang gelenkt und Selbstwirksamkeit erlebt werden. Auch Material zum Anfassen sorge für Wohlempfinden, ebenso tiergestützte Angebote, bei denen an Demenz Erkrankte „über den Weg der Tiere einen Glücksmoment erleben“. In manchen Einrichtungen werde auch mit den Bewohnern getanzt.

Festgelegte Abläufe und Zeitpläne hinterfragen

Eine weitere Erkenntnis aus dem Projekt: Festgelegte Abläufe und Zeiten bei der Pflege sind zu hinterfragen. Gerade demenziell veränderte Menschen hätten oft einen anderen Rhythmus; deshalb sollten deren Bedürfnisse im Tageslauf berücksichtigt werden.

„Man sollte sich bei herausforderndem Verhalten immer fragen: Passt der Zeitpunkt der Pflege oder des Angebots dem alten Menschen gerade?“ Vielleicht reagiere ein Senior unwirsch auf ein Angebot, weil er sich selber duschen und nur bei Bedarf unterstützen lassen möchte. „Dafür muss ich aber wissen, was den Bewohnern guttut, die in meinem Wohnbereich leben.“ Oft werde lieber zu Psychopharmaka gegriffen, als den Ursachen für Unwohlsein auf den Grund zu gehen, natürlich auch „weil das Arbeit macht und Zeit kostet“.

Kieschnick wünscht sich, dass allen Mitarbeitenden – inklusive Empfangskraft und Reinigungspersonal – Basiswissen über Demenz vermittelt wird. Dadurch reduziere sich das auffällige Verhalten, weil man ihm fachlich angemessener begegnen könne. „Es ist viel Vorarbeit, aber es lohnt sich“, weiß der Pflegeexperte. Psychopharmaka könnten reduziert oder ganz vermieden werden, wenn alle Beteiligten fachlich gut arbeiteten, erklärt er.

So wie im Resi Stemmler Haus in Euskirchen. Die Einrichtung, die an dem Caritas-Projekt beteiligt war, komme inzwischen komplett ohne Psychopharmaka aus. Und das obwohl in dem Altenpflegeheim ausschließlich Menschen mit Demenz leben. „Es geht also.“

Info

Unter dem Titel „Polka statt Pillen“ gibt Pfegexperte Henry Kieschnick Tipps für die häusliche Pflege von Menschen mit Demenz durch Angehörige und 24-Stunden-Kräfte:

  • Wissen über Demenz erwerben: Pflegende sollten Kenntnisse über Demenz und andere relevanten Alterserkrankungen etwa durch Schulungs- und Beratungsangebote vor Ort erwerben.
  • Wohlfühlatmosphäre schaffen: Konstante Bezugspersonen, Berührungen und individuell geeignete Beschäftigungen tragen zum Wohlbefinden bei. Durch kleine Alltagsbewegungen kann oft demenztypischer Bewegungsdrang kanalisiert werden. Der Kontakt zu Haustieren tue einem betagten Menschen ebenso gut wie das Tanzen.
  • Haptisches Erleben: Demente Menschen können sich Gegenstände oft nur über Anfassen erschließen. Man sollte ihnen geeignetes Material anbieten, das ein haptisches Erleben ermöglicht.
  • Erinnerungsboxen anlegen: Darin können Fotos und Gegenstände aufbewahrt werden, die dem Menschen wichtig sind und die für eine kleine Beschäftigung genutzt werden können.
  • Hausarzt auf Medikation ansprechen: Betagte Menschen nehmen oft viele Medikamente gleichzeitig; je mehr, desto häufiger kommt es zu möglichen Wechsel- und Nebenwirkungen. Selbst einfache Medikamente können Schwindel, Verwirrtheit oder Alpträume verursachen. Hausarzt und Fachärzte sollten sich abstimmen.
  • Medikationsberatung in der Apotheke: Sie können helfen, wenn es um Neben- und Wechselwirkungen geht. Ab fünf dauerhaft verabreichten Mitteln spricht man von „Polymedikation“.
  • Sich Entlastung suchen: Wer sich um Menschen mit Demenz kümmert, ist besonderen Belastungen ausgesetzt. Deshalb sollten Pflegende gut für sich sorgen und Hilfe in Anspruch nehmen, um nicht selber krank zu werden. Tagespflege-Angebote für demente Menschen können ebenso entlasten wie der Besuch einer Selbsthilfegruppe für pflegende Angehörige.