Nähe trotz Distanz
Wo spüre ich am meisten mein Bedürfnis nach Nähe? Wo vermisse ich Geborgenheit? Wer nimmt mir manchmal die Luft zum Atmen? Wer versucht mein Leben zu bestimmen? Wer greift in mein Leben ein, will es bestimmen? Wann fühle ich mich am allerliebsten allein? Wer strahlt für mich Wärme, wer Kälte aus?
Die Fragen nach einer Balance von Nähe und Distanz in unserem Verhalten könnten gerade für die Zeit der Corona-Krise unser Überleben gewährleisten.
In der Evolution des Lebens hat die Natur wohl am längsten und intensivsten daran gearbeitet, eine Zellwand zu konstruieren, die eine wirklich kunstvolle Fähigkeit besaß, sich nur in ganz bestimmten Situationen nach außen hin zu öffnen und in anderen Situationen sich nach innen wieder zu verschließen. Die erste Zelle, die irgendwo im großen Urozean, in der so genannten Ursuppe, schwamm und diese Fähigkeit besaß, schaffte es mit dieser phantastischen Fähigkeit ihrer Zellwand, dass wichtige Substanzen innerhalb der Zelle – wie etwa das Erbgut – nicht nach außen entweichen konnten. Gift- und Abfallstoffe innerhalb der Zelle mussten allerdings nach draußen transportiert werden können. Notwendige Nährstoffe konnte sie nach innen kommen lassen, indem sie die Zellwand wieder öffnete. Nicht öffnen durfte sich die Zellwand, wenn Giftstoffe von außen in die Zelle eindringen wollten. Erst als sie diese sehr differenzierte Fähigkeit erreicht hatte, geriet die Evolution des Lebens richtig „in Fahrt“.
Sich öffnen, sich verschließen
Dieses „sich öffnen“ und „sich wieder verschließen“ sind also zwei uralte Fähigkeiten, die gewissermaßen mit dem Leben selbst entstanden sind, ja, sie haben Leben überhaupt erst ermöglicht. In diesem Sich-Öffnen drückt sich wiederum ein anderes Urbedürfnis aus, das man als Wunsch nach Nähe bezeichnen kann; es lädt ein, lässt gewissermaßen zu, dass etwas nach innen rücken soll, dass es näher zum Kern der Zelle gelangen kann.
Zum Herzen des Menschen gelangen
In dem Sich-Verschließen drückt sich wiederum ein anderes Urbedürfnis aus, das man als Wunsch nach Distanz bezeichnen kann; es treibt weg, es will, dass sich etwas von innen nach außen bewegt, weg vom Kern. Es soll durch Distanz ausgeschlossen werden. Somit sind die Gegensatzpaare Nähe und Distanz bereits im Funktionieren einer Zelle zugrundegelegt, sie gehören zum Leben dazu, sie ermöglichen Lebensteilnahme und Lebensschutz. Wer Nähe sucht, der sucht etwas, was zum Leben dazugehört, der möchte, dass Wärme, Kontakt, Geborgenheit, Zärtlichkeit, Verständnis, Sicherheit und Vertrauen gewissermaßen näher zum Kern der Zelle, zum Herzen des Menschen heranrücken.
Wer Distanz sucht, braucht Platz zum Atmen, Freiheit der Bewegung, Schutz, der braucht Verteidigung, Abstand zu den Dingen. Wenn Nähe mit Wärme und Distanz mit Kälte zu tun hat, so lässt sich mit dem Schweizer Theologen Walter Ludin formulieren: „Wir wünschen uns Wärme, bis sie sich in Hitze verwandelt. Wir wünschen uns Kühle, bis sie sich in Kälte verwandelt.“ Beides kann, wenn übertrieben, gefährlich werden, denn „Distanz (Kälte) birgt die Gefahr, verlassen zu werden – Klammern (Wärme) auch“, sagt die Autorin Ute Lauterbach.
Trotz Ferne nah sein
Es gibt ein Mitleid, das keine Grenze kennt. Das Mitleid, das Jesus in der Bibel meint, ist anders. Ich kann mein Herz dem anderen nur öffnen, wenn ich in meiner Seele zuhause bin. Wenn ich in mir einen festen Stand habe, wenn ich in Gott ruhe. Wenn ich mit dem anderen grenzenlos mitleide, dann bedauere ich mich selbst, wie schlimm die Welt ist. Aber ich werde das Leid dadurch nicht lindern. Es klingt beinahe paradox, aber es ist die Wahrheit, wenn wir Sätze hören wie: „Man kann sich in der Ferne nah sein und in der Nähe fern“, sagt Autor Klaus Ender. „Liebe ist wie eine Rose: Sobald man sie zu fest hält, verletzen die Dornen“, warnt die Autorin Andrea Redmann. Oft merkt man dies erst im Abstand, denn „man ist immer zu weit gegangen, wenn man jemandem zu nahe getreten ist“, meint der Lyriker Elmar Kupke. Trotz dieser wichtigen Balance sollten wir aber eines nicht vergessen. Zu wenig Nähe wird von denen, die sich heute an die Telefonseelsorge und die Beratungsstellen des Bistums wenden, häufiger beklagt als zu wenig Distanz. Nach Ernst Ferstl, Schriftsteller aus Österreich, gilt immer noch: „Ohne Nähe bleibt die Liebe leider nur eine Fremdsprache.“ Die nötige Distanz versteht dann allerdings keiner mehr.
Den „gesunden“ Abstand finden
Der Philosoph Arthur Schopenhauer hat einmal zum Problembereich Nähe und Distanz eine kleine, entzückende Geschichte geschrieben: „An einem kalten Tag entwickelt eine Gruppe Stachelschweine ein allen gemeines Wärmebedürfnis. Um es zu befriedigen, suchen sie die gegenseitige Nähe. Doch je näher sie aneinander rücken, desto stärker schmerzen die Stacheln der Nachbarn. Da aber das Auseinanderrücken wieder mit Frieren verbunden ist, verändern sie ihren Abstand so lange, bis sie die erträglichste Entfernung gefunden haben.“ Die Stachelschweine repräsentieren die Menschen. Ihr Bedürfnis nach Solidarität und Gemeinschaft lässt sie die Nähe suchen. Sie werden aber gleichzeitig von deren schlechten Eigenschaften abgestoßen. In diesem Spannungsfeld werden durch Gebote von Höflichkeit und Anstand ein gewisses Gleichgewicht hergestellt. So wird das Bedürfnis nach Nähe (Wärme) nicht vollends, sondern nur so weit befriedigt, dass der Vorteil den damit zwingend verbundenen Nachteil (Stacheln) noch wettmachen kann. Es soll also ein Hinweis sein, einen „gesunden Abstand“ zu wahren, denn je näher man sich kommt, umso mehr unangenehme Eigenschaften kommen oft zum Vorschein. Trotzdem ist immer ein einsamer Lebensweg möglichst zu vermeiden. Eine wahre Kunst!
Gerade in der Zeit, in der unser gesamtes öffentliches und privates Leben vom Coronavirus bedroht wird, wird jene gelungene Balance von „Nähe und Distanz“ ein entscheidendes Kriterium werden, diese Krise erfolgreich zu meistern. Denn gerade hier gilt es, den nötigen Abstand (Distanz) zu wahren und einzuhalten und andererseits nach Innen den notwendigen mitmenschlichen Zusammenhalt (Nähe) zu schaffen, Mitgefühl, Solidarität, Wärme, Geborgenheit, Schutz, Sorge und Hoffnung. Hier haben jegliche egoistischen Alleingänge, Hamsterkäufe und unnötige Panikmache keinen Platz.