Tourismusmesse:Am Kraftort zur Ruhe kommen
Vielfältige Krisen, Alltagsbelastungen und zunehmende Unsicherheit – viele Menschen fühlen sich urlaubsreif und sehnen sich nur noch nach Ruhe und einem Ort, wo sie sich rundum wohlfühlen und wieder auftanken können. Solche Kraftorte sind gefragt – das beobachten auch die Kirchen. Bei der weltgrößten Tourismusmesse CMT in Stuttgart lenkten die katholischen Bistümer und evangelischen Landeskirchen unter dem Motto „Kraftorte – Urlaub für die Seele in Baden-Württemberg“ den Blick auf Orte mit besonderer Ausstrahlung und Atmosphäre – Wallfahrtsorte, Pilgerwege und Klöster.
Kraft tanken in der Natur
Allen gemein scheint die besondere Ausstrahlung und Atmosphäre zu sein, die Menschen dort in ihrem Innersten berührt; sie fühlen sich intuitiv zu ihnen hingezogen, fühlen sich verbunden mit der Welt und mit Gott. Kraft tanken in der Natur – viele Menschen zieht es nach draußen, um die eigenen Batterien wieder aufzuladen.
Wer das lieber in Gemeinschaft Gleichgesinnter macht, kann im Allgäu etwa „Samstagspilgern“. Die Kirchen versprechen eine kleine Auszeit der besonderen Art. Zwischen April und November werden dort Pilgertage angeboten, etwa unter dem Motto „Du führst uns hinaus ins Weite“, „Mit wachen Augen Gottes Schöpfung genießen“ oder „Wenn die Stille zu mir spricht“.
Wer sich mit den Texten alter Baumeister auseinandersetzt, bemerkt, dass diese Orte stets bewusst gewählt wurden.
Roberta Rio
Andere Menschen zieht es mehr in Kirchen, Klöster und Kapellen. Manche wirken durch ihre Schlichtheit, andere mit überbordender Verzierung. Den Himmel auf Erden wollten einst die Baumeister und Künstler des Barock in Oberschwaben gestalten. Viele mit Malereien und Skulpturen, mit Stuck und Kunsthandwerk ausgeschmückte Kirchen und Schlösser laden dort zum Verweilen und Innehalten ein. Diese „Orte des Heils“ in der Bodenseeregion hätten bis heute eine große Ausstrahlungskraft, wie die Landesarbeitsgemeinschaft Kirche & Tourismus in Baden-Württemberg auf ihrer Seite wirbt.
Aber nicht nur gläubige Menschen suchen heute gezielt alte Kirchen, Kathedralen, Kapellen und Klöster auf, um Kraft zu tanken. Vor vielen Jahrhunderten erbaut, scheinen sie die Glaubensgeschichte vieler Menschen widerzuspiegeln und die Besucher zu stärken. Nicht selten stehen sie an Stellen, die schon die Kelten als heilige Orte für Rituale nutzten.
Die italienische Historikerin und Buchautorin Roberta Rio hat sich intensiv mit dem Thema beschäftigt. In ihrem Buch „Der Topophilia Effekt: Wie Orte auf uns wirken“ schreibt sie, dass frühere Generationen und Kulturen um die besondere Energie und den bereits bei den Römern bekannten „spiritus loci“ bestimmter Orte wussten und dieses Wissen gezielt nutzten.
Von Kraftplätzen und Kraftlinien
So hätten die Kelten Kraftplätze und Kraftlinien gekannt – und sie entweder gezielt bebaut oder gemieden. Historikerin Rio beschreibt in ihrem Buch, dass fast alle mittelalterlichen Kathedralen wie auch der Kölner und der Speyrer Dom auf besonderen Plätzen gebaut wurden. Bei einigen habe die Forschung gezeigt, „dass es dort unterirdische Wasseradern gibt“. Für die Forscherin sind Kirchen auch deshalb „Kraftorte“.
„Wer sich mit den Texten alter Baumeister auseinandersetzt, bemerkt, dass diese Orte stets bewusst gewählt wurden. Denn dort glaubte man Kräfte der Natur am Werk, um gewisse Phänomene wie das Streben nach Spiritualität oder das Gefühl von Mystischem zu erzeugen“, sagte Rio einmal im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).
Das Thema Kraftorte boomt heute jedenfalls. Manche sind längst bekannt, andere sind ganz individuell. So lädt der ökumenische Verein „Andere Zeiten“ beim Projekt „andere orte“ seit 2017 dazu ein, solche Orte über eine App miteinander zu teilen. Schließlich machten Menschen an vielen Orten spirituelle Erfahrungen.