Alles beim Alten?

Der Psychoanalytiker Fritz Riemann sieht in dem Gleichklang von zwei grundverschiedenen Kräften im Weltall, der Anziehungskraft und der Fliehkraft, ein sinnbildliches und aussagekräftiges Modell zum besseren Verständnis menschlicher Grund-ängste und Verhaltensmuster. In seinem Buch „Grundformen der Angst“ spiegeln sich unsere existentiellen Urängste zwischen „verharren“ und „fortschreiten“ wider.
Die seelischen Kräfte der Beharrung sieht er in den kosmischen Kräften, die den Gesetzen der Schwerkraft folgend ins Erdinnere gerichtet sind, die Anziehungskräfte. Sie ermöglichen es, dass wir festen Fußes auf der Erde stehen können und nicht im Weltall umherfliegen. Die gegensätzlichen „Fliehkräfte“ ziehen von der Erde weg. Sie bewirken ihre Eigenrotation und geben ihr eine stabile Umlaufbahn. So verhindern die Fliehkräfte, dass die Erde von der Sonne aufgesogen wird.
Fritz Riemann sieht in diesem Kräftepaar ein Gleichnis unserer menschlicher Urängste. Denjenigen von uns, der diese „Anziehungskräfte“ extrem in sich vereinigt, nennt Riemann den „zwanghaften Typ“. Dieser spürt in besonders hohem Maße die Urangst in sich, dass alles sich verändert, dass nichts so bleibt, wie es ist. Er sehnt sich nach „Dauer“, er möchte sich buchstäblich in dieser Welt häuslich niederlassen. Er wünscht sich absolute Stabilität. Fortschritt und Risiko machen ihm eher Angst, er hasst alles Unvorhergesehene und „Leichtfertige“. Wagnisse einzugehen, ist ihm ein Gräuel. Ängstlich hält er deshalb an allem fest, sammelt, hortet, spart, ist „konservativ“.
Derjenige von uns, der in sich eher die „Fliehkräfte“ versammelt, nennt er den „hysterischen Typ“. Er ist der „flippige“, „bewegte“, „rastlose“, „schnelllebige“ Mensch, der absolut Ja sagt zur Entwicklung, er ist fortschrittsgläubig, ständig bereit, alles aufzugeben, Neues anzufangen, anderes zu wagen und zu planen. Er hasst alles Feste, geht nicht gerne Bindungen ein, scheut Verantwortung, Einhaltung von Regeln. Er hat Angst vor Ordnung und Zwang. Sein Freiheitstraum ist unersättlich. Erstarrung und Beharrung sind für ihn wie Tod. Er symbolisiert den „Fortschritt“.
Veränderung setzt Vertrauen voraus
Nach Fritz Riemann geht es darum, dass sich beide Typen in jedem Menschen mehr oder weniger stark ausgeprägt vorfinden lassen sollten. Beide Kräfte müssen sich im Laufe des Lebens aufeinander zubewegen, von einander lernen, um so miteinander ein seelisches Gleichgewicht zu erreichen. Dies hat natürlich immer mit der Bewältigung der jeweiligen Angst zu tun. Jede Bewältigung dieser Ängste ist jedoch ein Sieg, der uns stärker macht, jedes Ausweichen vor ihnen eine Niederlage, die uns schwächt. Bestand und Fortschritt, die seelischen Anziehungs- und Fliehkräfte müssen dabei die ständigen Gewichte auf der „Balkenwaage unseres Lebens“ sein.
„Eine Veränderung würde Dir ganz gut tun!“, das klingt nicht in Jedermanns Ohren ermutigend und motivierend. Im Gegenteil, viele haben Angst vor Veränderung. Es ist die Angst, das Bekannte, Vertraute, die Geborgenheit zu verlieren. Es gibt aber Menschen, die eine deutliche Vorstellung und ein sicheres Gefühl davon haben, dass in ihrem Leben eine notwendige Veränderung angesagt ist, und trotzdem verweigern sie sich letztlich, einen Schritt nach vorne zu gehen und die Veränderung auch durchzusetzen. Veränderung setzt Vertrauen voraus, Vertrauen, dass der Schritt, den man geht, auch gut „ausgeht“.
Häufig verbinden viele Menschen diese notwendige Veränderung mit einem unsicheren Gefühl, ihr Schritt in Richtung Veränderung könnte von anderen Menschen eher als „Wankelmut“ oder als ein „Umfallen“ missgedeutet werden nach dem Motto: „Der hat kein Rückgrat!“ Wer sich von einem solchen Satz in seiner Entscheidung lähmen lässt, der sollte sich an einem Modell anschaulich machen lassen, wie unser Rückgrad aussieht. Es ist eben nicht etwas Starres, Steifes, Unerschütterliches, wie es der Satz immer wieder suggeriert: „Hast du denn kein Rückgrat?“ Unser Rückgrad ist ein komplexes, geradezu kunstvolles Haltungssystem von 34 beweglichen Einzelelementen aus Wirbelknochen, Bandscheiben, Bandverbindungen und Wirbelbogengelenken. Wir könnten uns wohl kaum bewegen, wenn wir nur ein starres Gerüst im Rücken stecken hätten, das uns etwa helfen würde, uns nicht zu verbiegen.
Bewegen und so Haltung zeigen
Wir fallen deshalb nicht um, wir haben deshalb eine gute Haltung, weil unsere Wirbelsäule eben so geschmeidig und beweglich ist, eben nicht starr, und weil sie sich bei allen Unebenheiten und Schwierigkeiten unseres Weges adäquat bewegen kann, damit wir unsere „Haltung“ bewahren können. Einen wichtigen Schritt im Leben zu gehen, den man für stimmig und richtig hält, genau das erfordert ein gutes „Rückgrat“. Diesen Weg nicht zu gehen, würde bedeuten, „kein Rückgrat“ zu haben. Eben weil wir ein so gut bewegliches Rückgrat besitzen, können wir auch Vertrauen haben, solche wichtigen Schritte im Leben auch gehen zu können. Wer in einem kleinen Boot über das Meer fährt, wird sich bei hohem Seegang ja auch nicht steif und kerzengerade hinstellen. Dann würde er mit Sicherheit umfallen. Er wird aller Wahrscheinlichkeit nach nicht umfallen, wenn er mit seiner Körperveränderung bei hohem Wellengang mit Armen und Beinen eine Balance hält. Wenn notwendige Veränderung deutlich angesagt ist, wird es nicht helfen, sich eine starre Haltung zu leisten. Das wäre Rückschritt.